Geheimschriften

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Eine 'mitwachsende' Liste von Handschriften mit geheimschriftlichen althochdeutschen Glossen soll in diesem Wiki entstehen.

Generelle Charakteristika und Häufigkeit

Verschlüsselung bei Glossen kann durch Verschiebung bzw. Ersatz einzelner lateinischer Buchstaben oder durch die Verwendung eines fremden Alphabets geschehen. Damit handelt es sich um Substitutionschiffrierungen, wobei die Substitution einerseits (a) partiell, also nur bestimmte Buchstaben betreffend, andererseits – bei Glossen jedoch recht selten – (b) total erscheinen konnte.

Umfassende systematische Überlegungen zur Anwendung derartiger Schriftsysteme, die als Geheimschriften bezeichnet werden, stellt verstärkt die jüngere, funktional ausgerichtete Glossenforschung an (vgl. Nievergelt 2009).

Charakterisieren lassen sich die in Glossen verwendeten Verschlüsselungssysteme als offene, kryptographische Geheimschriften, die im Gegensatz zu gedeckten, steganographischen, offensichtlich als Verschlüsselungen erkennbar sind. Etwa in zehn Prozent der althochdeutsche Glossen tragenden Handschriften befinden sich Glossen, die in verschlüsselter Form geschrieben sind (Nievergelt 2009c, 240). In Hinblick auf eine Abhängigkeit von Geheimschrift und glossiertem Text lassen sich allerdings (noch) keine Aussagen treffen. Vielmehr kann man beobachten, dass sich die Häufigkeit des Geheimschriftengebrauchs in Glossen in einem Text proportional zur generellen Häufigkeit von Glossen zu diesem Text verhält bzw. an die Traditionen bestimmter Schreiborte gebunden ist (Nievergelt 2009:261).

Partielle Substitution

Die Varianten der verwendeten Verschlüsselungssysteme innerhalb der (a) partiellen Substitution sind überschaubar. Recht geläufig sind die bfk-Geheimschrift und die Punktegeheimschrift, die sich beide auf die Verschlüsselung von Vokalen beschränken.

Bei der bfk-Geheimschrift werden die Vokale durch den im Alphabet nachfolgenden Konsonanten ersetzt; es wird also statt a ein b, statt e ein f, statt i ein k, statt o ein p und statt u ein x geschrieben.

Die Punktegeheimschrift substituiert Vokale durch Zahlenchiffren in Form geometrisch angeordneter Punkte in der Art antiker Spielwürfelflächen. Die Substitution erfolgte oftmals in der Auflistung von Bonifatius, d.h. i = . , a = : , e = [drei Punkte übereinander], o = :: , u = :.: .

Seltener verwendet und wahrscheinlich auf das Kloster Tegernsee beschränkt war die cgl-Geheimschrift, bei der Vokale durch den übernächsten Buchstaben im Alphabet ersetzt wurden.

Problematik der Bezeichnung 'Geheimschrift'

In funktionaler Hinsicht bilden diese Substitutionen oftmals Rätsel. Die Verschlüsselungsleistung hierbei ist gering, auch wenn deren Auflösung zu Problemen auf Grund von Mehrdeutigkeiten führen kann. Besonders die Tatsache, dass es sich hierbei um "damals bestbekannte und stark konventionalisierte Verschlüsselungssysteme" (Nievergelt 2009c, 252) handelt, macht es sehr unwahrscheinlich, dass die Geheimhaltung einer Information die primäre Funktion derartiger Techniken gewesen sein konnte.

Paradox wäre dies in einigen belegten Fällen, bei denen Vokalpunkte einen verschlüsselten Buchstaben als geheimschriftlich kennzeichnen oder sogar Auflösungsschlüssel gleich mitnotiert werden, wie beispielsweise in Wien, ÖNB. Cod. 2732 belegt (Nievergelt 2007, 645), wo über b f k p x die Buchstaben a e i o u eingetragen wurden. Auch treten Teilverschlüsselungen häufig auf, die eine Auflösung deutlich erleichtern können. Eine Beibehaltung der Bezeichnung 'Geheimschrift' ist damit nur noch wissenschaftsgeschichtlich zu rechtfertigen.

Funktionale Erklärungsansätze der Forschungsliteratur

Zur Funktion dieser Verschlüsselungen wurden zahlreiche Spekulationen angestellt. Bereits 1808 fand Docen einige dieser Glossen und charakterisierte sie als 'Spielerey', ähnlich wie Hoffmann, der sie im Jahre 1826 als 'zeitkürzende mönchische Spielerei' beschrieb (Nievergelt 2009c, 264).

Hoffmanns These, dass verschlüsselte Glossen einge setzt wurden, um die voces barbaricas dem schnellen Wiedererkennen zu entziehen, ist auf Grund der ebenso häufigen Verschlüsselung lateinischer Glossen unhaltbar. In der Tat erscheinen in den Editionen oftmals nur verschlüsselte volkssprachliche Glossen. Die ebenfalls auftretenden lateinischen, geheimschriftlichen Glossen wurden wie auch andere lateinische Glossen nicht beachtet und müssen erst nach und nach in erneuten Analysen der Handschriften ans Licht gebracht werden.

Daneben ist auch die Annahme einer Verschleierung von Obszönitäten nur für wenige Einzelfälle nachvollziehbar, wie bei der Glosse brslqh als einzige geheimschriftliche Glosse in St. Gallen, Cod. 184 (Nievergelt 2007, 647).

Die Tatsache, dass die verwendete Geheimschrift Probleme beim Entziffern bereitete, ließ auf einen schulischen Kontext für die Geheimschrift schließen. Man muss nicht gleich wie Bischoff von Überlegenheit und Geheimnistuerei ausgehen (Ernst 2007, 386). Ebenso erscheint die Vorstellung von Lehrerglossen, welche Schüler nicht auflösen konnten (Haubrichs 1995, 235), nur dahingehend plausibel, als derartige Glossen auf Grund ihrer kurzfristig schweren Lesbarkeit "dem gedankenlosen Ablesen ein von Nachdenken begleitetes Lesen" (Nievergelt 2007:647) entgegensetzen konnten.

Ein anderer, 'semiotisch orientierter Ansatz, der erst in den letzten Jahren aufgekommen ist, erscheint jedoch in der Regel plausibler. So leitet Nievergelt aus der "schriftbildliche[n] Auszeichnung"(2009c, 266) geheimschriftlicher Glossen funktionale Aspekte ab. Neben den Punktegeheimschriften, die sofort ins Auge stechen, fallen bei der bfk-Geheimschrift ungewohnte Buchstabenverbindungen wie z.B. am Wortanfang fb-, kk- oder xx-, die Akkumulation seltener Buchstaben wie x sowie die Verwendung von k im Kontext lateinischer Schriften auf. Alleine die vertikal extensiven Zeichen dieser Geheimschrift (b, f, k) lassen sie im Kontrast zu anderen Eintragungen deutlich hervortreten (Nievergelt 2007, 648). Daraus schließt Nievergelt, dass diese Schriften "gezielt zur optischen Absetzung" (2007, 649) verwendet werden konnten.

Totale Substitution

Neben dieser recht häufig erscheinenden (a) partiellen Substitution wurden bei Glossen auch gelegentlich (b) totale Substitutionsmethoden eingesetzt. Hierbei wurden die lateinischen Buchstaben mit Zeichen fremder Alphabete ersetzt, was in Form von griechischen und runischen Zeichen sporadisch belegt ist.

Totale Substitution in Form von Graeca

Die Verwendung von Graeca galt in der römischen Antike und auch im Frühmittelalter als ein beliebtes Verfahren, um "allzu Bekanntes zunächst einmal undurchsichtig erscheinen zu lassen" (Ernst 2007, 385). Am Clm 6272, einem glossierten Hieronymus-Kommentar zum Matthäusevangelium, belegt Ernst allerdings, dass auch der Einsatz griechischer Buchstaben bei Glossen weniger der Verschlüsselung galt. So findet man dort sowohl althochdeutsche als auch lateinische Griffeleintragungen mit griechischen Buchstaben, die weniger den Sinn einer Eintragung verschleiern sollten, sondern auf ein Interesse am Griechischen selbst hinweisen, welches insbesondere für den Ort der Glossierung, Freising, nachgewiesen werden kann (Ernst 2007, 401).

Erneut in semiotischer Hinsicht auffällig ist die Verwendung des Griechischen innerhalb lateinischer Texte. Hieronymus-Kommentare beispielsweise sind durchsetzt mit griechischen Textwörtern. Dies zeigt sich auch im Clm 6272, der allerdings vor dem Hintergrund mangelhafter Griechischkenntnisse entstanden ist, was man anhand der zahlreichen fehlerhaften Formen erkennen kann (Ernst 2007, 390). Die daraus resultierenden, von der Norm abweichenden Laut-Buchstaben-Zuordnungen lassen sich allerdings semiotisch interpretieren. So beobachtet Ernst, dass bei den Graeca im Clm 6272 eine auffällige Häufung griechischer Buchstaben erscheint, die vom lateinischen Alphabet abweichen. Dahinter verbirgt sich möglicherweise die Annahme dieser Schreiber, dass das ihnen fremde Griechische auch durch Zeichen wiedergegeben werden musste, die dem bekannten lateinischen Alphabet möglichst fern stehen sollten (Ernst 2007, 389). Zusätzlich hervorgehoben wurden die Graeca durch einen Strich über den jeweiligen Textwörtern, was in Hieronymustexten sehr gängig ist (2007, 389). In anderen Handschriften wurde das Griechische bewusst als eine Auszeichnungsschrift verwendet, indem Kapitelüberschriften griechisch geschrieben wurden (Bischoff 1967b, 255). Auch die Substitution mit griechischen Buchstaben liegt somit fern von kryptographischen Intentionen. Vielmehr zeigt sich erneut ein frühmittelalterliches Bewusstsein für das semiotische Potenzial formaler Gestaltungsmittel.

Totale Substitution in Form von Runen

Die Substitution lateinischer Buchstaben durch Runen ist in althochdeutschen Glossen nur recht sporadisch belegt. Hierbei wird – wie auch im Hildebrandslied – die wen-Rune ᚹ zur Verschriftung von /w/ verwendet, was wohl auf angelsächsische Schreibeinflüsse zurückzuführen ist, die zusammen mit insularen Abbreviaturen in den Handschriften eine derartige Zuordnung wahrscheinlich machen (Ernst 2007, 395).

Transliteration der Alphabetschrift durch Runen wurde erst vor wenigen Jahren in vier St. Galler Handschriften mit Griffelglossen aus dem 8. Jahrhundert entdeckt. Diese Runenverwendung steht – wie auch die anderen Manuskriptrunen – nicht in der epigraphischen Tradition, sondern hat als eine "gelehrt-antiquarische Erscheinung" (Nievergelt 2009a, 14) innerhalb der klösterlichen Schriftkultur zu gelten. Nievergelt erwägt zwei Funktionen hinter dem Gebrauch runischer Zeichen bei Griffelglossen. Einerseits bilden sie wohl "Ausdruck eines gelehrten Experimentierens" (2009a, 52) zum Zweck der Tauglichkeitsprüfung dieses Schriftsystems. Andererseits mag auch der semiotische Aspekt wiederum eine Rolle gespielt haben und die Verwendung von Runen konnte im Kontext der optischen Abgrenzung von Glossen gedient haben (2009a, 52).

Totale Substitution in Form von Neumen

Bisher sind nur vier Handschriften bekannt, in denen die sogenannte 'Neumengeheimschrift' auftritt, die sich aus St. Galler Neumen, lateinischer Buchstaben und sonstigen Zeichenformen zusammensetzt. In zweien davon erscheint sie nur innerhalb der Auflistung unterschiedlicher Alphabete: Im Clm 18628, fol. 95r (BStK-Nr. 654), eine Handschrift des 11. Jhs. aus Tegernsee (Abb. siehe Schiegg 2014), sowie in Wien, ÖNB Cod. 1761, fol. 105v (BStK-Nr. 941), vermutlich Mitte des 11. Jhs. in Lorsch entstanden, wobei hier die Zeichen jeweils den Buchstaben des lateinischen Alphabets zugeordnet sind.

Zum Einsatz kommt die Neumengeheimschrift in Archiv des Bistums Augsburg, Handschrift 6 in 10 Glossen des Markus-Evangeliums, 8 althochdeutsch und 2 lateinisch; ebenfalls in 2 Glossen, eine lateinisch und eine teilweise radiert und somit sprachlich nicht sicher identifizierbar, im Clm 3860a. Zur Edition dieser Glossen sowie zur Aufarbeitung des Zeicheninventars der Neumengeheimschrift siehe Schiegg (2014, Kap. 7.2)

Literatur

  • Obige Ausführungen sind großteils entnommen aus: M. Schiegg (2014, im Erscheinen): Frühmittelalterliche Glossen. Ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit, Kap. 4.2.3 und Kap. 7.2