Geheimschriften

Aus Glossenwiki
Version vom 13. Januar 2014, 16:40 Uhr von M.schiegg (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „==Generelle Charakteristika und Häufigkeit== Verschlüsselung bei Glossen kann durch Verschiebung bzw. Ersatz einzelner lateinischer Buchstaben oder durch di…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Generelle Charakteristika und Häufigkeit

Verschlüsselung bei Glossen kann durch Verschiebung bzw. Ersatz einzelner lateinischer Buchstaben oder durch die Verwendung eines fremden Alphabets geschehen. Damit handelt es sich um Substitutionschiffrierungen, wobei die Substitution einerseits (a) partiell, also nur bestimmte Buchstaben betreffend, andererseits – bei Glossen jedoch recht selten – (b) total erscheinen konnte.

Umfassende systematische Überlegungen zur Anwendung derartiger Schriftsysteme, die als Geheimschriften bezeichnet werden, stellt verstärkt die jüngere, funktional ausgerichtete Glossenforschung an (vgl. Nievergelt 2009).

Charakterisieren lassen sich die in Glossen verwendeten Verschlüsselungssysteme als offene, kryptographische Geheimschriften, die im Gegensatz zu gedeckten, steganographischen, offensichtlich als Verschlüsselungen erkennbar sind. Etwa in zehn Prozent der althochdeutsche Glossen tragenden Handschriften befinden sich Glossen, die in verschlüsselter Form geschrieben sind (Nievergelt 2009c, 240). In Hinblick auf eine Abhängigkeit von Geheimschrift und glossiertem Text lassen sich allerdings (noch) keine Aussagen treffen. Vielmehr kann man beobachten, dass sich die Häufigkeit des Geheimschriftengebrauchs in Glossen in einem Text proportional zur generellen Häufigkeit von Glossen zu diesem Text verhält bzw. an die Traditionen bestimmter Schreiborte gebunden ist (Nievergelt 2009:261).

Partielle Substitution

Die Varianten der verwendeten Verschlüsselungssysteme innerhalb der (a) partiellen Substitution sind überschaubar. Recht geläufig sind die bfk-Geheimschrift und die Punktegeheimschrift, die sich beide auf die Verschlüsselung von Vokalen beschränken.

Bei der bfk-Geheimschrift werden die Vokale durch den im Alphabet nachfolgenden Konsonanten ersetzt; es wird also statt a ein b, statt e ein f, statt i ein k, statt o ein p und statt u ein x geschrieben.

Die Punktegeheimschrift substituiert Vokale durch Zahlenchiffren in Form geometrisch angeordneter Punkte in der Art antiker Spielwürfelflächen. Die Substitution erfolgte oftmals in der Auflistung von Bonifatius, d.h. i = . , a = : , e = [drei Punkte übereinander], o = :: , u = :.: .

Seltener verwendet und wahrscheinlich auf das Kloster Tegernsee beschränkt war die cgl-Geheimschrift, bei der Vokale durch den übernächsten Buchstaben im Alphabet ersetzt wurden.

Problematik der Bezeichnung 'Geheimschrift'

In funktionaler Hinsicht bilden diese Substitutionen oftmals Rätsel. Die Verschlüsselungsleistung hierbei ist gering, auch wenn deren Auflösung zu Problemen auf Grund von Mehrdeutigkeiten führen kann. Besonders die Tatsache, dass es sich hierbei um "damals bestbekannte und stark konventionalisierte Verschlüsselungssysteme" (Nievergelt 2009c, 252) handelt, macht es sehr unwahrscheinlich, dass die Geheimhaltung einer Information die primäre Funktion derartiger Techniken gewesen sein konnte. Paradox wäre dies in einigen belegten Fällen, bei denen Vokalpunkte einen verschlüsselten Buchstaben als geheimschriftlich kennzeichnen oder sogar Auflösungsschlüssel gleich mitnotiert werden, wie beispielsweise in Wien, ÖNB. Cod. 2732 belegt (Nievergelt 2007, 645), wo über b f k p x die Buchstaben a e i o u eingetragen wurden. Auch treten Teilverschlüsselungen häufig auf, die eine Auflösung deutlich erleichtern können. Eine Beibehaltung der Bezeichnung 'Geheimschrift' ist damit nur noch wissenschaftsgeschichtlich zu rechtfertigen.

Funktionale Erklärungsansätze der Forschungsliteratur

Zur Funktion dieser Verschlüsselungen wurden zahlreiche Spekulationen angestellt. Bereits 1808 fand Docen einige dieser Glossen und charakterisierte sie als 'Spielerey', ähnlich wie Hoffmann, der sie im Jahre 1826 als 'zeitkürzende mönchische Spielerei' beschrieb (Nievergelt 2009c, 264). Hoffmanns These, dass verschlüsselte Glossen einge setzt wurden, um die 'voces barbaricas dem schnellen Wiedererkennen zu entziehen', ist auf Grund der ebenso häufigen Verschlüsselung lateinischer Glossen unhaltbar.

Daneben ist auch die Annahme einer Verschleierung von Obszönitäten nur für wenige Einzelfälle nachvollziehbar, wie bei der Glosse brslqh als einzige geheimschriftliche Glosse in St. Gallen, Cod. 184 (Nievergelt 2007, 647).

Die Tatsache, dass die verwendete Geheimschrift Probleme beim Entziffern bereitete, ließ auf einen schulischen Kontext für die Geheimschrift schließen. Man muss nicht gleich wie Bischoff von Überlegenheit und Geheimnistuerei ausgehen (Ernst 2007, 386). Ebenso erscheint die Vorstellung von Lehrerglossen, welche Schüler nicht auflösen konnten (Haubrichs 1995, 235), nur dahingehend plausibel, als derartige Glossen auf Grund ihrer kurzfristig schweren Lesbarkeit "dem gedankenlosen Ablesen ein von Nachdenken begleitetes Lesen" (Nievergelt 2007:647) entgegensetzen konnten.