Kürzungen
Siehe dazu aktuell das Projekt Kürzungen im Althochdeutschen an der Universität Zürich (Mitarbeiter: Elvira Glaser, Andreas Nievergelt, Vreni Wittberger-Markwardt)
Aus Schiegg (2014, im Erscheinen): Frühmittelalterliche Glossen. Ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit, S. 81f.:
Bereits Jacob Grimm hatte 1852 in den Murbacher Hymnen gekürzte althochdeutsche Glossen entdeckt (Henkel 2001:429). Teilweise sind gekürzte Glossen bei Steinmeyer / Sievers ediert, in Grammatiken hat das Phänomen allerdings nur selten Einzug gefunden. Die jüngere Forschung beschäftigt sich intensiver mit dieser Thematik, so Voetz in seiner Monographie zu den St. Pauler Lukasglossen (1985) sowie Henkel in funktionalen Studien zu gekürzten Glossen (2001). Ernst liefert einen Überblick zur Kürzung in volkssprachigen Glossen und unterscheidet drei Grundtypen (Ernst 2009:287):
- Abkürzung: Kürzung von Wortenden (z.b. geb[an])
- Verkürzung: Kürzung von Wortanfängen (z.B. [hor]ta)
- Binnenkürzung / Kontraktion: Kürzung von Mittelteilen (z.B. g[igeb]an)
Generell sind Zusammenhänge zwischen der Form einer Kürzung und der paratextuellen Funktion einer Glosse festzustellen. So liefern Abkürzungen den Wortstamm und damit tendenziell lexikalische Informationen, Verkürzungen hingegen Flexionsendungen und grammatische Informationen. [...]
Auch wenn quantitative Aussagen über gekürzte Glossen auf Grund noch mangelnder Erschließung in der Forschungsliteratur kaum möglich sind, kann man auffällig häufig einen Zusammenhang von Abkürzung, d.h. Kürzung von Wortenden, und Griffelglossen feststellen (Ernst 2009:300) [Eine solche Tendenz kann man nicht nur bei althochdeutschen Griffelglossen beobachten. Gwara weist in seiner Analyse der Glossen in Cambridge, Corpus Christi College MS 326 auf die Existenz hunderter abgekürzter altenglischer Griffelglossen hin (1997:202). Auch McCormicks Untersuchung lateinischer Griffelglossen aus dem westfränkischen Raum des 9. Jhs. (Biblioteca Vaticana, Pal. lat. 1631) förderte zahlreiche Abkürzungen zu Tage (1992:9). Vgl. weitere Literatur bei Glaser (1996:72).] Bischoffs frühe Beobachtung, dass besonders Griffelglossen generell gekürzt wurden und Kürzungen somit der individuellen Erinnerungshilfe dienten (1928:155), ist mit Blick auf die Überlieferung damit (noch) nicht sicher zu belegen (Voetz 1987:72). Daneben lassen sich möglicherweise räumliche Spezifika von Abkürzungsverfahren aufdecken, was Voetz für Eigenheiten in alemannischen Handschriften nachzuweisen versucht [Voetz stützt sich auf die prominenten alemannischen Denkmäler wie die Murbacher Hymnen, die Altalemannischen Psalmenfragmente, die ahd. Interlinearversion zur Benediktinerregel, die St. Pauler Lukasglossen und die ahd. Glossen zum zweiten Korintherbrief im St. Galler Cod. 70 (1987:167). Über die räumliche Verteilung der Kürzungen in den zahlreichen weiteren Glossenhandschriften (Ernst 2009:292) ist damit freilich noch nichts gesagt. Siehe dazu bereits Bischoff (2009:209).]
Werden Glossen bis auf wenige Buchstaben gekürzt, so kann man aus der daraus resultierenden problematischen Auflösung auf deren Verwendung als persönliche Notate schließen (Ernst 2009:300). Bei der Reduktion des Umfangs einer Eintragungseinheit bis auf einen einzelnen Buchstaben ist fraglich, ob noch von einer lexikalischen oder grammatischen Funktion gesprochen werden kann. Nur wenn man weiß, welches Wort bei der Glossierung intendiert war, ist es möglich, eine solche Glosse sicher zu entziffern. Daher liefern solche Glossen einem fremden Benutzer nur selten Hinweise zum Textverständnis. \label{text:erinnerungsfunktion}Viel eher besitzen solche Glossen eine Erinnerungsfunktion für den Glossator. Hierbei ist auch ein Unterrichtskontext denkbar, für den ein Lehrer einzelne Stellen markiert hat, die ihm dann Hinweise für die Notwendigkeit weiterführender Exkurse zu einer bestimmten Thematik liefern konnten (Ernst 2007:410).
Möglicherweise deuten gekürzte Glossen auch auf ein anderes grammatisches und lexikographisches Verständnis des Mittelalters hin. Die Vorstellung einer 'Grundform' ist nicht universell festgelegt, was man etwa an der Differenz der in Wörterbüchern üblichen Grundform von Verben im Neuhochdeutschen (Infinitiv) und Lateinischen / Griechischen (1. Sg. Ind. Präs.) erkennt. So wäre es durchaus denkbar, dass die Vorstellung einer Grundform -- im Gegensatz zu unserer lexikographischen Tradition -- im Mittelalter auf den Stamm abgekürzte Wortformen gewesen sein könnten (Ernst 2009:310) [Einer solchen Auffassung ist auch Haspelmath (1989), der die weit verbreitete Annahme (u.a. von Jakobson, Crystal und Conrad) widerlegt, dass der Infinitiv generell die unmarkierte Form darstelle. So basiere eine solche Vorstellung lediglich auf der aktuellen lexikographischen Praxis. Neben dem Hinweis auf die lat./gr. Praxis (1. Sg.) zeigt Haspelmath, dass in hebräischen und arabischen Wörterbüchern die 3. Sg. mask. Perf. als Grundform angegeben wird.]